Das Buch „Der weisse Strich“
 

Interview mit Frank Schuster

Das zum Text verarbeitete Interview mit Frank Schuster beginnt gleichmal damit, daß er sich nicht erinnern könne, wer die Idee zur Strich-Aktion hatte. An Schusters Ausführungen interessanter aber ist ein kleiner Hinweis darüber, daß er die Nacht vom ersten zum zweiten Aktionstag  nicht im Zelt verbracht habe, weil er Privates klären mußte. Hatte Willmann in seinem Text doch behauptet, er sei abends im Zelt mit Frank Schuster darüber in Streit geraten, weil er, Willmann, im Unterschied zu Schuster Jürgen Onißeits an die Mauer geschriebene Botschaft nicht teilte. 
Aufschlußreich an Schusters Ausführungen ist, daß er darauf verweist, daß wir damals durchaus mit der Absicht an die SFE-Schule gegangen sind, das Abitur zu machen. Das widerspricht sich mit dem, was später als alternativlos darüber gesagt wurde: daß wir nur das gute Geld mitnehmen und ansonsten von vornherein nichts mit der Schule und dem Abschluß zu tun haben wollten. Möglicherweise war es jedoch eher so gewesen, daß wir die Schule einfach mit der Absicht begannen, das Abitur nachzuholen und sehen wollten, ob wir in der Lage wären, die nötige Selbstdisziplin (es gab ja keinen äußeren Leistungs-Druck) und Zeit dafür aufzubringen. Als sich zu je unterschiedlicher Zeit mit einer Ausnahme herausstellte, daß wir dazu nicht in der Lage  sind, setzte wohl irgendwann bei einigen eine Art Positivierung des Aufgegebenhabens ein, indem man sich einredete, man hätte von vornherein nur das aufwandslos erhaltene Geld (Bafög plus zusätzlich ca. 300 D-Mark für DDR-Bürger) mitnehmen wollen.
Wenn Frank schreibt, daß wir nach der Schule immer auf Demo gingen, so stimmt das zwar überhaupt nicht, soll aber den tatsächlich stark politisch-
aktivistischen Charakter dieser Schule aufzeigen und weist ganz nebenbei darauf hin, daß wir offenbar recht regelmässig in der Schule gewesen sind, was sich mit der angeblichen Existenz als vorsätzlicher Schüler-Simulant nicht recht in Einklang bringen läßt.
Sehr erfreulich an Franks Text ist, daß er immerhin einen Gutteil darin der Strichaktion, ihren Hintergründen und Folgen widmet, sodaß man hier den Eindruck hat, er will dem Leser tatsächlich etwas darüber sagen, statt ihn mit  themafernen  Episoden zu ermüden. Daß unsere Aktion von vielen entsetzten Reaktionen begleitet war, ist allerdings frei erfunden. Obwohl ich  auf das Ziehen des Striches konzentriert gewesen bin, habe ich –ob beim Malen oder Vorrücken zum nächsten Anschlußpunkt des Strichs- meine Antennen offengehalten für Reaktionen von Passanten und kann ein massives Passanten-Feedback absolut nicht bestätigen. Ebenso stimmt es nicht, daß wir uns der fragenden Springerpresse kollektiv verweigert hätten und diese uns dann trotzdem in der Zeitung heroisierend thematisierte. Thomas hatte der BZ ein Interview gegeben, damit war er für Springer vermutlich eben unser Pressesprecher und die kollektive Verweigerung schlug damit fehl. Unsere Aktion dann später schlagzeilenmächtig zu thematisieren war schon deshalb kein Widerspruch. Eher widersprüchlich am Gesamtverhalten des Springer-Ver-
lages scheint mir gewesen zu sein, daß sie uns den Zugang zu ihrem Gelände für unsere Aktion verweigerten, diese Aktion aber dann später in ihren Zei-
tungen begrüßten.
Wieder einige Zeilen später spricht Frank von der Anziehung, die die Front-
stadt Westberlin auf ihn ausgeübt hat ähnlich wie für viele andere junge Menschen auch, die aus Flucht vor der Bundeswehr und den Zwängen und Diskriminiereungen in ihren Käffern nach Berlin gingen und uns damit ähnlich waren: auch wir waren den Zwängen entkommen, die neben den in unserem Fall extrem politischen die gleichen tief kulturellen, (klein-) bürgerlichen Zwänge gewesen waren wie die der westdeutschen Außenseiter.
Über unsere Strich-Aktion schreibt Schuster, daß wir uns über die kleinen Türchen in der Mauer keine Gedanken gemacht hatten, was darauf hinweist, daß wir auf Unwägbarkeiten eigentlich nicht gut vorbereitet gewesen sind. Künstler, die mit ihren aktionistischen Arbeiten in gesellschaftliche Automa-
tismen eingreifen, gehen in der Regel organisierter vor und machen sich vor-
her mit möglichst allen Aspekten des von ihnen gewählten Ortes und dessen Absicherungslogistik vertraut. Sie planen sicherheitstechnische und sonstige auf ihre Aktivitäten eventuell erfolgende Reaktionen einzubeziehen, um, sofern dies machbar ist, darauf wirksame alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die auch, wenn anderes nicht möglich ist, den völlig Abbruch einschließt. Wir hielten das bereits für übertrieben und was immer MfS und westliche Medien an künstlerisch und politisch motivierter Organisiertheit in unsere Aktion hineindichteten, um sie  - mit jeweils konträrer Beurteilung- aufzuwerten, es entspricht einfach nicht den Tatsachen.
Wenn Frank erwähnt, daß Presse nicht geplant war, so verweist er auf unsere ursprüngliche Intention: es war eine Aktion um ihrer selbst willen und der öffentlichkeitswirksame Charakter beschränkte sich auf den Ort selbst und nicht die Mediatisierung. Diese setzte ja erst nach meiner Verhaftung ein, einerseits, weil sich damit die Aktion als spektakuläre verkaufen ließ, ande-
rerseits, um Solidarisierung zu bewirken. Ohne diese Verhaftung würde heute vermutlich ebenso wie damals während ihrer Ausführung kaum ein Hahn nach der Aktion krähen, da ihr eigentlicher Gehalt gar nicht spektakulär gewesen ist.
Auch Frank hatte, wie er in seinem Text erwähnt, angenommen, ich käme nach meiner Verhaftung gleich wieder frei. Dieselbe Annahme hatte ich ja ebenfalls gehabt und an dieser Vermutung eines undramatischen Ausgangs änderte auch das resolute, mich gewissermaßen vor vollendete Tasachen stellende Auftreten der Grepos nichts, denn um zunächst einmal überhaupt verhaften zu können war solche Resolutheit notwendig. „Er (Hasch) war Westberliner Bürger, die Aktion nicht vordergründig politisch, ich dachte, die nehmen das auf und schicken ihn wieder rüber. er hatte nichts Schlimmes getan. Wie viele andere davor und danach hat er die Mauer als Projektions-
fläche genutzt, nur ein wenig Farbe auf eine Mauer gemalt." Daß es dann ausgerechnet mich traf, wo ich noch Bewährung hatte und eine schwangere Freundin zurückließ, findet er ungerecht, wobei dem hinzuzufügen ist, daß dies vielleicht besonders ungerecht gewesen ist, aber eine Verhaftung einer der anderen Strichmaler doch ebenfalls sehr ungerecht gewesen wäre.
Frank Schuster bemerkt dann noch den ungünstigen Umstand, daß ich auch noch derjenige gewesen bin, der am kürzesten in der neuen Freiheit gewesen ist. Auch an dieser Aussage sieht man, wie eng die Freundschaft zwischen uns wohl gewesen sein muß, denn die Tatsachen waren andere gewesen. Von den 5 Strich-Akteueren waren die beiden Franks (Schuster, Willmann)  im Frühjahr 1984 übergesiedelt, ich und Jürgen Onisseit Anfang 1985, Thomas Onisseit folgte Im Herbst 1985.  Aber das ist letztlich sowieso auch nur Statistik, denn ab einem gewissen Zeitpunkt, sagen wir einem Jahr, waren Zeiträume seit der Übersiedlung eigentlich nicht mehr relevant. Die Integration in die Sellbstver-
ständlichkeiten des neuen Lebens gingen so rasant vonstatten und wurden auch begünstigt durch unsere vergleichweise privilegierten Möglichkeiten als Übersiedler von Deutschland nach Deutschland (Sprache, Kultur, Freunde, auch die langjährige Informiertheit durch BRD-Fernsehen in der DDR ist dabei nicht belanglos), daß sie uns bald zu Selbstverständlichkeiten geworden waren und durch ihre Rasanz auch noch in einer geradezu unreflektierten Weise. Durch meine Inhaftierung und das Zurückgeworfensein in die Vergan-
genheit bekam ich im Grunde erstmals die Gelegenheit, diese Freiheit tatsä-
chlich zu reflektieren, indem ich mir dieser nun unter dem plötzlichen Entzug all ihrer Facetten besonders bewußt wurde. Im übrigen waren allein in Baut-
zen II 50 Prozent meiner Mitgefangenen Ex-DDR-Bürger und davon wiederum einige, die vor ihrer Inhafrtierung noch nicht lange in der BRD/Westberlin gelebt hatten. Ich war also durchaus kein besondersschicksalhafter Einzelfall.

Ich glaube, daß gerade eine relativ kurze Gefängnis-Zeit die Möglichkeit bietet, so ein DDR-Haft-Dejavu, wie ich es erleben mußte zu verkraften. Im ersten Moment nimmt man vielleicht an, die Vergangenheit, speziell ihre düsterste Version hätte eine totale Macht über einen, sodaß man ihr letztlich nie entkommt, aber das gehört zu den normalen Überbewertungsphantasmen bei Situationen, die als überraschende Extremsituationen ganz plötzlich da sind und uns mangels Abschätzung ihrer weiteren Ausmaße der gedanklichen Kontrolle über ihren Einfluss berauben, sodaß die Phantasie mit uns durch-
geht. Der positive Aspekt meiner damaligen Situation war die Erfahrung einer inzwischen in der DNA angekommenen Freiheit, die mir von der Vergangenheit und überhaupt von keiner plötzlichen Einschränkung innerlich mehr genommen werden konnte. 
Während ich in der Haft nach anfänglichen Befürchtungen über solche mög-
lichen Vergangenheitsüberfrachtungen  erleichtert diese positiven Selbstwahr-
nehmungen feststellte, liefen „draussen“ ganz andere Dinge ab. Die Medien hatten sich auf den Skandal der „Verschleppung nach Osten“ gestürzt und eine ursprünglich weder als Kunst noch als realpolitischen Protest beabsichtigte Aktion nun eindeutig politisch interpretiert, sodaß sich Ost und West diesbezüglich die Hand reichen konnten. „Für die Medien waren wir nur ein Spielball, sie interpretierten das hinein, was sie drin haben wollten.“sagt Frank. Und weiter "Die Aktion war keine eindeutig politische, wurde aber dazu gemacht." Was Frank hier für die unmittelbare Zeit nach meiner Verhaftung feststellt könnte er genausogut ein Vierteljahrhundert später nach der Veröf-
fentlichung des Buches von Willmann und Hahn und der darauf einsetzenden öffentlichen Resonanz gesagt haben. Das befremdliche der aktuellen gegen-
über der damaligen -gleichen- Bedeutungsgebung ist jedoch, daß man aus den 1986 gemachten Erfahrungen mit den eingleisig politisierenden Medien im Grunde offenbar nur gelernt hat, es ihnen am besten gleichzutun, um nicht erneut enttäuscht zu werden. Denn angesichts von Franks Äußerungen frage ich mich, warum man 2010/11 genau diese- unsere Aktion als Protest gegen die DDR interpretierte- Realpolitisierung nicht von vornherein mit eindeutigen Aussagen verhindert hat, wo man doch nach den Erfahrungen vermuten konnte, daß sie erneut losgetreten werden würde. Nun ist es zu spät und mein Buch letztlich nur noch ein Nachwort zu einem großen, aber nun gültig bleibenden Miß-Verständnis.
 

 


Zurück